Flick-Nachfolger wohl gefunden: Julian Nagelsmann ziert den DFB – nicht umgekehrt

Bis zum Ende der EM 2024 übernimmt Julian Nagelsmann übereinstimmenden Berichten zufolge das Bundestraineramt. Ein Scoop für den DFB! Das weiß auch Nagelsmann. Der Zeitpunkt seines Ausscheidens ist wohlkalkuliert.
Es geht ein Stoßseufzer durch die Branche, wenn eine wichtige Planstelle im Fußball besetzt wird nach Tagen und Wochen des Suchens. So war das im Sommer 2021, als Hansi Flick zum Nachfolger von Joachim Löw bestellt wurde. Der DFB veranstaltete sogar einen kleinen Festakt im Rohbau seiner neuen Akademie in Frankfurt am Main. All die Geladenen waren froh, dass Flick, der Wundertrainer des FC Bayern (sechs Titel innerhalb eines Jahres!), fortan seine magischen Kräfte bei der Nationalmannschaft wirken lassen würde.
Und jetzt? Kaum waren am Dienstagmittag die übereinstimmenden Berichte draußen, dass Julian Nagelsmann den entzauberten Flick beerben würde, da atmete Fußball-Deutschland nicht etwa auf, sondern legte die Stirn in Falten. Kann der das denn überhaupt? So lautet die Frage, die auf dieser Stirn geschrieben steht.Bild: Nagelsmanns neuer Bundestrainer
Verzerrtes Selbstbild des deutschen Fußballs
Nagelsmann – das ist doch der Typ mit den zu kurzen Dreiviertelhosen und den zu karierten Anzügen, ein berufsjugendlicher Trainer, der mit dem Skateboard zum Training kommt, der lässiger sein will als seine Spieler, dem Gespür für Maß und Mitte fehlen. So jemand soll die Nationalmannschaft trainieren? Ernsthaft?
Diese Frage offenbart, unter welch einer verzerrten Selbstwahrnehmung der deutsche Fußball leidet. Unterstellt wird, dass das Bundestraineramt noch immer das schönste und ruhmreichste des Weltsports sei. Ein Amt, das seinen Inhaber schmückt, das begehrt wird von vielen und nur dem einen einzigen Beneidenswerten zuteilwird.
Doch diese Nationalmannschaft, die zu trainieren Ehre und Vergnügen zugleich ist, gibt es schon seit bald zehn Jahren nicht mehr. Zu beklagen ist ein zweimaliges Scheitern in einer WM-Vorrunde (2018 und 2022), ein EM-Aus im Achtelfinale (2021) und – was gern unterschlagen wird – der Abstieg aus der Nations League (2018), der nur wegen einer Strukturreform der Uefa nicht vollzogen wurde.
Gelitten hat auch der Ruf des DFB als Arbeitgeber. Sieben verschiedene Präsidenten in den zurückliegenden elf Jahren, Intrigen in der Geschäftsführung, das skandalumwitterte Sommermärchen, mutmaßlicher Abrechnungsbetrug, Verdacht auf Steuerhinterziehung; die Liste ließe sich noch um einige Punkte verlängern.
Julian Nagelsmann ist kein Gescheiterter
Diesem moralisch und wirtschaftlich angeschlagenen Verband ist es offenbar (die offizielle Bestätigung steht noch aus) nun gelungen, Julian Nagelsmann, 36, als Bundestrainer zu verpflichten. Einen Mann mit einigen Schwächen, doch noch immer das größte Trainertalent im europäischen Fußball. Für den DFB ist das ein Erfolg. Nagelmann ziert den Verband – und nicht umgekehrt der Verbandsjob ihn.
Als Nagelsmann im März dieses Jahres beim FC Bayern entlassen wurde, nach einer Niederlage in Leverkusen, standen die Münchener auf Platz eins der Tabelle, sie hatten gerade Paris Saint-Germain aus der Champions League geworfen und waren auch noch im DFB-Pokal vertreten. Als dann Thomas Tuchel übernahm, zerschellten sie in der Champions League an Manchester City, verloren im DFB-Pokal gegen den SC Freiburg, und den Meistertitel verteidigten sie erst in der 89. Minute des letzten Spieltags.Von Nerz bis Nagelsmann: die Bundestrainer
Nagelsmanns Bilanz der beiden Münchener Jahre ist also nicht die eines Gescheiterten. Nagelmann weiß das, er kennt seinen Marktwert genau, und auch wohl deshalb hat er dem DFB nur bis zum Ende der Europameisterschaft 2024 zugesagt. Sein Ziel ist es weiterhin, eine große europäische Mannschaft zu betreuen. Zu Chelsea und Paris gab es schon in diesem Sommer Kontakt, und nächstes Jahr wird der wohl begehrteste Trainerstuhl des internationalen Fußballs frei. Carlo Ancelotti verlässt Real Madrid, um Nationaltrainer in Brasilien zu werden. Nagelsmann gilt als einer der Kandidaten in Madrid, ebenso wie Xabi Alonso übrigens (gegen dessen Leverkusener Nagelsmann schicksalshaft verloren hatte im Frühjahr).
Mitte Juli 2024, wenn die Heim-EM abgepfiffen wird, endet Nagelsmanns Job beim DFB. Die Gefahr, dass sein Ruf leidet, wenn das Turnier missrät, ist gering. Schneiden die Deutschen schlecht ab, hat er nicht mehr rausgeholt als Löw und Flick vor ihm. Dann fehlt es eben an spielerischer Qualität im Team, ein Mangel, zu beheben von niemandem. So könnte er das darstellen. Spielt die Nationalmannschaft jedoch ein starkes Turnier, wird Nagelsmann als großer Stratege gelten, der den deutschen Fußball aus der Lethargie der Löw-Flick-Jahre gerissen hat. Tatsächlich wäre dies ein kleines Meisterwerk – und eine Empfehlung für höhere Aufgaben.