"Heimaten" im Dezernat 16: Ewige sehnsuchtsvolle Suche
Von Arndt Krödel
Heidelberg. Über Heimat machen sich gerade ziemlich viele Leute Gedanken. Das Thema "liegt" in unserer Zeit, es treibt die Menschen um. Eben erschien, rechtzeitig zur Buchmesse, "Heimat" von der in den USA lebenden Schriftstellerin Nora Krug, ein "graphic memoir", also gezeichnete Erinnerungen. Sie erzählen eine deutsche Familiengeschichte aus dem 20. Jahrhundert. Der Rückbezug auf die eigene Familie - vielleicht ein Bedürfnis in einer sich immer schneller drehenden globalisierten Welt voller Erschütterungen, Überflutungen und Unwägbarkeiten jeglicher Art. Ist das also Heimat? Oder ist das bereits zu eng gefasst?
Eine fixe Definition scheint angesichts der Bedeutungsvielfalt des Begriffs unmöglich. Auch Hubert Habig will sich da nicht festlegen: In seinem neuen Stück "Heimaten: Fremde Räume - andere Stimmen" stellt der Heidelberger Autor und Regisseur des Ak.T-Theaters anhand seiner sechs Protagonisten ein bisweilen überbordendes, kühn wie kunstvoll geschmiedetes Konglomerat an Äußerungen, Erfahrungen und Reflexionen vor, eingebettet in unterschiedliche Zeit- und Handlungsebenen.
Es ist ein Spiel von Parallelitäten und Koinzidenzen, sprachmächtig konstruiert und manchmal ein bisschen schwer zu entwirren. Die sechs Personen des Stücks, das im neuen (und ausverkauften) Theatersaal im Heidelberger Dezernat 16 seine Premiere feierte, suchen alle eine Heimat, ob so antike Figuren wie Iphigenie oder so heutige Persönlichkeiten wie die Frau aus Mali. Sie haben gewissermaßen reale Vorbilder, die sich jeweils in kurzen Videoeinspielungen vorstellen (Filme: Ines Anna Krämer, Bernhard Rang). Danach hat die Phantasie freien Lauf, jede Rolle entwickelt sich eigenständig, auch wenn einzelne reale Fragmente eingebaut bleiben. Habig arbeitet mit mannigfaltigen literarischen und philosophischen Quellen, die von Bloch über Goethe und Kierkegaard bis zu Drösser reichen.
Die heimatlosen Menschen in seinem in drei Akte - Ankunft, Aufbruch, Heimkunft - gegliederten Stück haben sich auf eine schwierige Odyssee begeben. Letztlich findet keiner das, wonach er sucht. Djeneba, die schwarze Frau aus Mali, die den Dreck anderer Leute wegputzt, hält sich an dem Glauben fest, eine bessere Welt schaffen zu können. Svetlana Wall, stets mit schwarzer Maske, ist für ihre Rolle dank etlicher eingefügter Polster fülliger geworden und schwingt ebenso liebenswert wie tatkräftig den Wischmop über den blau ausgeschlagenen Boden der Bühne (Ausstattung: Motz Tietze), auf dem sich nur noch ein Bett (später ein Floß) und ein Wandspiegel befinden. Aber sie kann auch anders, bringt ihrer Mitreisenden Iphigenie sinnfällig bei, dass das Brüllen von "Scheiße" bei gleichzeitigem Treten gegen die Wand entlastend wirkt.
Iphigenie, klug und authentisch von Laura Alvarez verkörpert, ist als Tochter des Agamemnon und der Klytämnestra eine wahre Schicksalsgestalt. Sie verzehrt sich in ihrer Sehnsucht nach der griechischen Heimat - doch der Autor lässt die Schauspielerin gegen ihre Rolle revoltieren: "Mich kotzt sie an, diese Rolle, eine Frau, die sich vom eigenen Vater schlachten lässt, ihn später als Helden bezeichnet…" Ein origineller Gag im Stück, das am Ende auch alle anderen Schauspieler hinter ihrer Rolle hervortreten lässt. Wie Iphigenie ist auch die aus der Stasi-Haft freigekaufte Anna (sehr überzeugend als wahres Energiebündel: Vivien Zisack), ständig unterwegs, auf der Flucht vor sich selbst, vor allem und jedem.
Said hingegen, ein aus dem Iran entflohener Heiler (Edgar Diel gibt ihn mit hintergründiger Aura), bleibt eher ein ruhender Pol, dem die Fähigkeit des Wissenden zu eigen scheint. Thoas (Florian Kaiser) muss Iphigenie auf der fremden Insel überwachen und ist zugleich der rastlose, sportlich topfitte Businessman. Als aus seiner Rolle Getretener hat Kaiser im dritten Akt, der insgesamt sowohl befreiend wie fremd wirkt, seinen großen Auftritt mit einer herrlich hochgejazzten Werbenummer für ein frisch gezapftes Glas Pils als auch mit seinen satirisch-redundanten Ausführungen zur absurden Logik der sozialen Netzwerke. In einer kleinen Rolle als Iphigenies Bruder Orest ist Javid Seyed zu sehen, der allerdings die fast gewichtigsten Worte am Ende des Stücks spricht: "Was sollen wir jetzt tun?"
Ein leicht abgewandeltes Brecht-Zitat fällt einem hier fast in den Schoß: "Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen". Heimat: Es bleibt eine ewige Suche jedes Einzelnen nach der unerfüllten Sehnsucht. Für das Ensemble, das auf allen Positionen bestens besetzt ist und auch die sängerischen Parts in den einzelnen Chor-Stücken (Komposition: Franz Wittenbrink, musikalische Leitung: Jutta Glaser) eindrucksvoll meistert, gab es herzlichen Beifall.
Info: Nächste Vorstellungen am 19. und 20. Oktober um 20 Uhr im Dezernat 16, Emil-Maier-Straße 16. Karten an der Abendkasse ab 19 Uhr oder über RNZ-Vorverkauf, Tel.: 06221 / 519-1210.