Trotz eines Deals mit Tunesien kamen innerhalb einer Woche so viele irreguläre Migranten wie noch nie auf der Insel Lampedusa an. Was heißt das für die Zukunft der Vereinbarung?Stolz hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen es im Juli verkündet: Die EU hat einen Deal mit Tunesien geschlossen. Das nordafrikanische Land soll sich unter anderem darum kümmern, dass weniger irreguläre Migranten mit Booten nach Italien übersetzen.Doch nun kamen innerhalb einer Woche so viele irreguläre Migranten wie noch nie aus Tunesien. Vor allem in der Hafenstadt Sfax legen viele Boote ab, von hier sind es rund 180 Kilometer bis zur italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa. Innerhalb von drei Tagen landeten dort 199 Boote mit etwa 8.500 Menschen an Bord. Lampedusa setzt nur ein Schlaglicht, aber auch insgesamt sind die Zahlen seit der Unterzeichnung gestiegen.Ist der Deal jetzt schon gescheitert?Nicht nur dazu gehen die Meinungen in der Politik stark auseinander, sondern auch über die Frage, ob Tunesien an den steigenden Zahlen überhaupt die alleinige Schuld trägt. Das Land selbst hatte das zurückgewiesen, und spricht von einer Torschlusspanik unter vielen Migranten, die sich derzeit in Tunesien aufhalten und nach Europa wollen."Das war eine naive Kommunikation""Ich halte die Begründung Tunesiens für nicht vorgeschoben", sagt Erik Marquardt t-online, der für die Grünen im Europaparlament sitzt. "Es ist kein Wunder, dass die Zahlen steigen, wenn EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen laut verkündet, dass dieser Weg bald geschlossen wird. Das war eine naive Kommunikation."FDP-Abgeordnete Jan-Christoph Oetjen wertet die steigenden Zahlen hingegen als klaren Bruch der Vereinbarung und sieht den Deal als gescheitert. "Das zeigt ganz klar: Tunesien ist kein geeigneter Partner für die EU", sagt Oetjen t-online. "Das ändert sich auch nicht durch mehr Verhandlungen."100 Millionen für weniger MigrantenVereinbarungen mit Drittstaaten, wie das mit Tunesien, sind ein zentraler Baustein in der Strategie der EU, die irreguläre Migration nach Europa einzudämmen. Dementsprechend groß verkaufte die EU-Kommission die Einigung mit Tunesien als Erfolg. Für die Verhandlungen war von der Leyen gemeinsam mit Italiens Ministerpräsidentin Georgia Meloni und ihrem niederländischen Amtskollegen Mark Rutte nach Tunis, die Hauptstadt Tunesiens, gereist.Das Ergebnis: Tunesien, das derzeit in einer tiefen Wirtschaftskrise steckt, bekommt 900 Millionen Euro Finanzhilfen und weitere 100 Millionen Euro dafür, dass das Land gegen irreguläre Migration vorgeht. Zudem soll das Land künftig schneller und unbürokratischer eigene Staatsbürger zurücknehmen, die sich illegal in der EU aufhalten. Es soll als Vorbild für weitere Abkommen dienen. Doch die Bruchlinien waren auch da schon offenkundig. Tunesiens Präsident Kais Saied betonte bei den Treffen immer wieder, Tunesien sei nicht die Grenzschutzpolizei Europas. Zudem empörte er sich in der Presse über einen Vorschlag, der ihm bei den Treffen gemacht sein soll: Tunesien solle Bootsmigranten – auch wenn sie keine Tunesier sind – zurücknehmen, ansiedeln und dafür finanzielle Unterstützung bekommen. Als "unmenschlich und unzulässig" bezeichnete er das im Gespräch mit der tunesischen Presse. Mehr dazu lesen Sie hier."Wir sollten den tunesischen Präsidenten nicht beschenken""Ich spreche mich grundsätzlich für solche Abkommen aus", sagt FDP-Politiker Oetjen. Aber: "Der tunesische Präsident hält sich nicht an Zusagen, wir sollten ihn dann auch nicht beschenken." Für viel entscheidender hält er ohnehin Rücknahmeabkommen mit den Herkunftsstaaten der Migranten. Auf Lampedusa kamen etwa hauptsächlich Menschen aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara an. Oetjen ist mit seiner Kritik an dem Deal nicht allein: Auch zahlreiche andere EU-Parlamentarier äußerten in den vergangenen Tagen in der Presse, dass sie das Abkommen als gescheitert ansehen.Daniel Caspary, Vorsitzender der deutschen CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, hingegen sieht keinen Grund dafür, den Deal mit Tunesien aufzukündigen. "Die Europäische Union hat mit Tunesien eine Vereinbarung getroffen. Vereinbarungen trifft man nicht, um sie dann zu brechen, sondern um sie einzuhalten", sagt er t-online.Das sei nicht nur im Interesse der EU (mehr dazu lesen Sie hier), sondern auch in dem Tunesiens. "Die organisierte Kriminalität in Zusammenhang mit Schleusern, Menschenhandel und illegaler Migration stellt auch eine massive Gefahr für die staatliche Autorität in Tunesien dar und droht, das dortige System zu destabilisieren", sagt er. "Tunesien sollte also auch aus Eigeninteresse die Vereinbarung durchsetzen."Reisefreiheit für Tunesier gefordertGrünen-Politiker Marquardt setzt auf weitere Verhandlungen. Die EU müsse aber mehr auf Tunesien zugehen, sagt er. "Man kann nicht mit 100 Millionen schnell ein Problem lösen, es braucht bessere Angebote an Tunesien", sagt er. Er fordert, dass die EU Tunesien weitere Angebote macht, etwa dass tunesische Staatsangehörige für Reisen in die EU von bis zu 90 Tage keine Visa brauchen. "Diese Reisefreiheit ist ein relevanter Hebel, den die EU in der Hand hält."Die Gefahr, dass sich dadurch mehr Tunesier illegal in Europa aufhalten werden, sieht er nicht. "Falls eine Person nicht freiwillig ausreist, würde Tunesien sie sofort zurücknehmen, um nicht die Reisefreiheit für die gesamte Bevölkerung aufs Spiel zu setzen", sagt Marquardt. Allerdings warnt er davor, zu viel Hoffnung auf Vereinbarung, wie der mit Tunesien, zu setzen: "Die Idee, dass dank solcher Abkommen auf einmal kaum noch irregulären Migration nach Europa stattfindet, ist realitätsfern."Offene Frage der MenschenrechteÄrger um das Abkommen gab es von Anfang an. Denn die EU-Kommission schloss ein sogenanntes "Memorandum of Understanding", also eine gemeinsame Absichtserklärung. Das Parlament musste zunächst also nicht eingebunden werden. Als dort in der vergangenen Woche darüber diskutiert wurde, zählte die migrationspolitische Sprecherin der SPD, Birgit Sippel, die Versäumnisse der Kommission auf. "Dieser Deal ist schwammig, wenig aussagekräftig, und vieles ist halt noch gar nicht ausgearbeitet", sagte sie dort laut Tagesschau. So sei etwa unklar, was die Rechtsgrundlage für den Deal sei – und wer überhaupt das Geld, das an Tunesien fließen soll, genehmigt hat.Auch die Frage, wie die EU sicherstellen will, dass Tunesien in der Zusammenarbeit die Menschenrechte achten werde, ist offen. Die EU-Bürgerbeauftragte, Emily O'Reilly, forderte die EU-Kommission vergangene Woche in einem offenen Brief dazu auf, das zu erklären. Tatsächlich hat sich die Menschenrechtslage in dem Land in den vergangenen Wochen drastisch verschlechtert. Noch während das Land mit der EU verhandelte, begann es damit, Migranten in der Wüste nahe der Grenze zu Libyen auszusetzen. Libysche Grenzbeamte veröffentlichten Videos auf sozialen Medien, die die Menschen in der Wüste zeigen, ausgemergelt, ohne Wasser. Auch Leichen finden sie. Wie viele Menschen insgesamt auf diese Weise ums Leben gekommen sind, ist nicht bekannt. Tunesiens Präsident auf KonfrontationAuch, dass Tunesiens Präsident das Land zunehmend autokratischer führt, sorgt für Kritik. Die aber verbittet sich Saied, vor allem von der EU. Als eine Gruppe von deutschen und französischen Europaabgeordneten vergangene Woche nach Tunesien reisen wollte, um sich mit Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften zu treffen, wurde ihnen kurzerhand die Einreise verweigert.Die Stimmung unter vielen Europa-Abgeordneten hat das weiter verschlechtert. Um den Deal zu retten, so scheint es, hat von der Leyen hat eine Menge Arbeit vor sich.