Krise des Rekordmeisters: Die Bayern zerfallen – und Tuchel ist nur noch ein Trainer auf Abruf
Der FC Bayern München taumelt weiter durch die Saison. Nach der Niederlage beim VfL Bochum versuchen die Bayern-Bosse zwar die Trainerdiskussion um Thomas Tuchel kleinzureden, doch der Coach ist nur noch ein Trainer auf Abruf. Und das hat vor allem einen Grund.
Der letzte Eindruck bleibt, sagt man. Das allerletzte Bild, das die Tribünenbesucher des Ruhrstadions am Sonntagabend vom FC Bayern München zu Gesicht bekamen, war ein Dokument der Krise und des aktuell chaotischen Zustands des Rekordmeisters. Nach zwei Niederlagen glaubte die Branche, ja glaubten nahezu alle Fans, dass das Imperium nun zurückschlagen werde. Tatsächlich aber gingen völlig aufgebrachte Mitglieder des taumelnden Imperiums nach dem 2:3 bei Abstiegskandidat VfL Bochum aufeinander los.
Als die ebenso bediente wie bedröppelte Mannschaft vom Gang zur Kurve mit hängenden Köpfen zurücktrottete Richtung Kabine lieferten sich Joshua Kimmich und Co-Trainer Zsolt Löw ein hitziges Wortgefecht. Auf dem Weg in die Katakomben, der – welch' Sinnbild – Stufe für Stufe nach unten führt, rief Löw wild schimpfend Kimmich, der nach einer guten Stunde ausgewechselt worden war, etwas nach. Kapitän Manuel Neuer ging als Schlichter dazwischen, zog an der Jacke des Co-Trainers, um die Streithähne auseinanderzubringen. Ein Beleg wie sehr die Nerven blank liegen beim Branchenprimus, der seine nationale Vormachtstellung nach 12 Jahren einbüßt und nach elf Meisterschaften in Serie angesichts von nun schon acht Punkten Rückstand bald Glückwunsch-Nachrichten an Bayer Leverkusen vorbereiten sollte.
Man mag sich kaum vorstellen, was nach diesem Vorfall in der Bayern-Kabine los war. Wie man die Protagonisten kennt, wird man es zeitnah erfahren, da in solchen Extremsituationen nahezu alles nach außen durchgestochen wird. Aus Selbstschutz und purem Eigeninteresse. Das Bayern-Schiff, zu Beginn noch mit Kurs Triple in die Saison gestartet, läuft auf Grund. Rette sich, wer kann! Die stets auf Harmonie erpichte Familie gibt aktuell ein verheerendes Bild ab. Mia san Torso. Ein Verein in Form eines Trümmerhaufens. Mittefeldspieler Leon Goretzka wähnt sich "in einem Horrorfilm, der nicht enden will. Es läuft alles gegen uns."Bayern Bochum 20.20
Die Verantwortlichen spielten den Vorfall um Kimmich wenig später herunter – diplomatische Schadensbegrenzung. "Josh muss einigermaßen bedient gewesen sein auf der Auswechselbank, das ist aber normal", sagte Vorstandsboss Jan-Christian Dreesen beschwichtigend und erklärte: "Er gibt immer alles und will gewinnen. Dass Josh in dem Moment einfach sauer ist, ist nachvollziehbar." Trainer Thomas Tuchel gab den Tiefenentspannten: "Ich weiß, was los war. Das ist nichts für die Öffentlichkeit." Und weiter, als wäre es eine Lappalie: "Wir sind in einer Fußballkabine. Ein ziemlich normaler Vorfall, wenn es im Rahmen bleibt. Und es blieb im Rahmen."
Hat Thomas Tuchel mit den Bayern schon abgeschlossen?
Womöglich ist der 50-Jährige angesichts der zwischenmenschlichen Eruption zwischen seinem Vize-Kapitän und seinem wichtigsten Assistenten nach der dritten Pleite in neun Tagen schon so abgehärtet, dass ihn kaum noch etwas schocken kann im Kosmos FC Bayern. Oder aber Tuchel hat innerlich doch schon abgeschlossen mit diesem Job, der für ihn nach lediglich knapp elf Monaten im Amt immer mehr zum Albtraum-Engagement wird. Erst die 0:3-Demütigung in Leverkusen, unter der Woche die 0:1-Pleite im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League bei Lazio Rom und nun die Abfuhr bei Abstiegskandidat VfL Bochum. Die erste titellose Saison seit 2011/12 droht. Tuchel ginge damit in die Geschichtsbücher des meist so glorreichen Vereins ein. Was bleibt einem da außer – gespielte – Lässigkeit und dem Prinzip Hoffnung?
Es war eine geradezu absurde, weil nicht nachvollziehbare Leistung des FC Bayern mit Schwankungen, die jedem Trainer auf den Magen schlagen. Vom Start weg entschlossen und zielstrebig samt Führungstreffer durch Jamal Musiala, nach dem Ausgleich plötzlich wieder verunsichert und schicksalsergeben in die nächste Pleite taumelnd Mit zehn Mann nach dem Platzverweis für Dayot Upamecano stemmte man sich leidenschaftlich gegen die Niederlage. Ohne Fortune. Die Probleme liegen tiefer, als dass man sie lediglich auf der Trainerbank verorten könnte.
Die Mannschaft wirkt falsch zusammengestellt, ein Versäumnis und zugleich Vermächtnis der Ära Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic. Der Kader hat offensichtlich nicht ausreichend Qualität, es besteht teamintern keine Hierarchie mehr. Führungsspieler wie Kapitän Manuel Neuer und Vize-Kapitän Thomas Müller sind im Herbst ihrer Karriere zu sehr damit beschäftigt, ihr Level noch halten zu können. Die auserkorene neue Leader-Generation Kimmich und Leon Goretzka wird diesem Anspruch nicht gerecht. Zur krisenhaften Gemengelage kommt hinzu, dass die zwei größten Leistungsträger der Hinrunde, Torjäger Harry Kane und Top-Vorlagengeber Leroy Sané nun auch schwächeln. Diese Bayern haben jegliche Dominanz und Souveränität verloren, zeigen lediglich dann ansatzweise, was sie können, wenn sie nichts mehr zu verlieren haben. Ist das der Hoffnungsschimmer für den Rest der Saison?STERN PAID 34_23 Tuchel FC Bayern 18.00
Ironie beiseite. Der FC Bayern muss immer gewinnen. Das weiß Tuchel, das hat er mehrmals schon betont. Siege sind das Grundnahrungsmittel des Vereins, und jede Hungerphase führt schnurstracks zur Grundsatzfrage, der Trainerfrage. War dieses 2:3 "anne Castroper", wie die Bochumer ihre raue wie charmante Heimspielstätte liebevoll bezeichnen, die letzte Partie in Amt und Würden für den Champions-League-Sieger Tuchel (mit dem FC Chelsea 2021) und sein Trainerteam? Endstation, bitte alle entlassen?
"Ich halte nichts von diesen monströsen Trainer-Unterstützungsbekundungen. Das ist gar keine Frage, die sich für uns heute stellt. Das ist kein Thema, mit dem wir uns aktuell beschäftigen", sagte Vorstandsboss Jan-Christian Dreesen über angeschlagenen Trainer und beteuerte: "Wir müssen uns auf die nächsten Spiele konzentrieren." Tuchel sitze kommenden Samstag gegen RB Leipzig "selbstverständlich" noch auf der Bank. Weil er trotz der Horrorwoche in der Bayern erstmals seit Mai 2015 drei Partien hintereinander verlor, bleiben darf. Bleiben muss?
Tuchel scheint alternativlos. Aber er ist trotz seines bis 2025 laufenden Vertrages wohl nur noch ein Coach auf Zeit, auf Abruf. Noch wollen die Bosse um Dreesen und Präsident Herbert Hainer, der weiterhin den engsten Draht zum Tegernsee, zum mächtigen Ehrenpräsidenten Uli Hoeneß pflegt, an ihrem glücklosen Trainer festhalten. Sie hoffen weiter auf die Wende vor bzw. spätestens beim Achtelfinal-Rückspiel gegen Lazio Rom am 5. März. Eine Kurzschlussreaktion wie bei der Entlassung von Julian Nagelsmann Ende März vergangenen Jahres (als Bayern noch in drei Wettbewerben Titel-Chancen hatte!) möchte man nun unbedingt vermeiden.
Es gibt keinen Plan B für einen Tuchel-Ersatz
Außerdem gibt es keinen adäquaten Plan B. Erstens, da keiner aus Tuchels Assistententeam infrage käme, sofort zu übernehmen – dafür sind sie zu loyal zu ihrem Chef. Hansi Flick, der Sieben-Titel-Coach der Jahre 2020/21 wäre frei und wohl im Verein trotz der Misstöne bei seiner Kündigung im Sommer 2021 vermittelbar. Verständlich aber, dass der ehemalige Bundestrainer bei einer Rettermission gerne einen längeren Vertrag als nur über drei Monate unterschreiben würde. Was für Jupp Heynckes in zwei Fällen ein Freundschaftsdienst war, muss für Flick nicht gelten. Laut "Bild" soll Hoeneß einer Rückkehr von Flick nicht uneingeschränkt positiv gegenüberstehen. Die womöglich passenden Nachfolge-Kandidaten für Tuchel, Leverkusens designierter Meistercoach Xabi Alonso oder Sebastian Hoeneß, der den VfB Stuttgart wachgeküsst hat, müssten aus ihren Verträgen herausgekauft werden und würden ohnehin erst zur neuen Saison einsteigen.
Die Bayern sind in der Zwickmühle. Tuchel gibt sich nonchalant. "Ich bin Trainer, ich fürchte mich vor nichts", betonte er in Bochum, "alles gut". Über das Verhältnis zu den Entscheidungsträgern sagte er: "Ich spüre die Unterstützung, kenne mein Verhältnis zu Jan und weiß, wie wir zusammenarbeiten. Er weiß, wie sehr mich das wurmt und wie viel wir investieren. Dass es eine Trainerdiskussion gibt, ist das Geschäft. Kein Problem, das kenne ich."