Gelungener Start ins EM-Jahr: Der Bessermacher: Wie sich die Nationalmannschaft beim Sieg gegen Frankreich an Toni Kroos aufrichtet
Er sollte nur den Abwehrchef geben, ist jetzt aber auch noch der Spielmacher: Toni Kroos überragt im DFB-Team – und stellt den Bundestrainer vor ein ernsthaftes Problem: Wohin mit Kapitän Gündogan?
Als nur noch wenige Minuten zu spielen waren, stimmte das Publikum im Groupama Stadium von Lyon die Marseillaise an, jene Hymne, die von großen Schlachten kündet und vom Tag des Ruhmes, der endlich gekommen sei. Der Text passte am Samstagabend zwar nicht ganz zu den Bildern, die das Spiel unten auf dem Rasen lieferte, 0:2 lagen die Franzosen gegen Deutschland zurück, aber was soll’s: Man kann sich so eine Niederlage auch schönsingen.
Der vielstimmige Chor auf der Haupttribüne verstummte plötzlich, als in der 89. Minute der Spieler mit der Rückennummer acht vom Feld ging. Das Publikum erhob sich und applaudierte. Es war allerdings keiner der ihren, den es feierte. Es war Toni Kroos, der Abwehrchef der deutschen Nationalmannschaft.
Wo anfangen, wenn dieser Toni Kroos doch so ziemlich alles im Repertoire hat?
Dass ein Spieler des Gegners gefeiert wird, kommt eher selten vor in Fußballstadien. Bei Abschiedsspielen schon mal oder wenn sich jemand humpelnd vom Platz schleppt. Das ist dann ein Aufmunterungsapplaus. Toni Kroos jedoch ging aufrecht Richtung Seitenlinie. Das ließ nur einen Schluss zu: Der Beifall galt ausschließlich seiner Spielkunst.
Die zu beschreiben fiel am Samstagabend sogar Julian Nagelsmann schwer, dem deutschen Bundestrainer. Wo anfangen, wenn dieser Kroos doch so ziemlich alles im Repertoire hat? Die weiten, spektakulären Pässe wie jenen auf Florian Wirtz, der in Sekunde acht gleich zum 1:0 führte. Die kurzen, scharfen Bälle, mit denen er das Spiel beschleunigt. Die weichen, langsamen Bälle, mit denen er das Tempo drosselt. Dazu Ecken und Freistöße, zentimetergenau geschlagen.
Nagelsmanns Worte wirkten wie eine rhetorische Kapitulation vor dem Gesamtwerk des Meisters. Er sagte: "Der Ball ist bei Toni einfach gut aufgehoben."
Die Statistik wies 143 Ballkontakte für Kroos aus, so viel wie für keinen anderen Spieler an diesem Abend, 95 Prozent seiner Pässe erreichten ihr Ziel. Was die Zahlen allerdings verschwiegen: Dass Kroos jeden seiner Pässe mit einer Botschaft versah, wie denn mit dem gelieferten Ball umzugehen sei. Als ob ein gelber Post-it-Zettel an der Kugel geklebt hätte, wussten vor allem die Offensivspieler Havertz, Musiala und Wirtz, was sie zu tun hatten. "Wir sind sehr froh, dass Toni wieder da ist", sagte Florian Wirtz, der von Kroos reichlich mit Anspielen versorgt worden war, "Toni gibt uns Stabilität."
Erstaunlich war, mit welcher Ruhe und Selbstsicherheit Kroos das Spiel lenkte. Gerade so, als hätte es den Rücktritt vor drei Jahren nicht gegeben. Kroos schleppte den Ball unermüdlich zwischen Angriff und Verteidigung hin- und her, auch in großer Bedrängnis machte er kaum Fehler, immer wusste er einen Adressaten für seine Pässe.
Im System Kroos scheint es schlicht keinen Platz für Gündogan zu geben
Dass Kroos das deutsche Spiel so sehr dominieren würde, war nicht vorauszusehen gewesen. Nagelsmann hatte Kroos, 34, zu einem Comeback überredet, weil er jemanden suchte, der die Defensive organisiert. Die Testpartie gegen den WM-Zeiten Frankreich hat nun gezeigt, dass Kroos zugleich auch der Regisseur ist, der die Angriffe einleitet. Eigentlich war Ilkay Gündogan für diese Rolle vorgesehen, der Kapitän. Seine Aufgabe sei es, im Spiel der "jungen Zauberer" (gemeint waren Wirtz und Musiala) für "die richtige Balance" zu sorgen, hatte Gündogan in der zurückliegenden Woche gesagt.
Im Spiel gegen Frankreich blieb er blass. Nicht etwa, weil er viele Fehler gemacht hätte – im System Kroos scheint es schlicht keinen Platz für Gündogan zu geben. Havertz, Wirtz und Musiala holen sich die Bälle aus dem Mittelfeld bei Kroos ab und stürmen dann nach vorn. Sie brauchen keinen weiteren Zuträger.
STERN PAID 13_24 Nagelsmann 13:53
Wohin also mit Gündogan? Das ist die Frage, die Nagelsmann Ende Mai wird beantworten müssen. Dann trifft sich die Mannschaft zu einem sechstägigen EM-Trainingslager in Blankenhain bei Weimar. Und dann wird auch Leroy Sané wieder im Kader sein, der beim aktuellen Lehrgang fehlt, da er wegen einer Tätlichkeit noch gesperrt ist. Auch Sané sieht sich als Stammspieler in der Offensive, auch er kann das Tempo gehen, das Wirtz (20) und Musiala (21) im Team vorgeben. Gündogan kann es nicht. Er ist der Mann für den klugen, wohltemperierten Pass, kein Flipperkugel-Spieler wie die Jungen im Team.
Gündogan übernahm von Neuer die Binde
Was Gündogan für sich ins Feld führen kann, ist sein Kapitänsamt. Ein Kapitän muss spielen, so lautet ein ungeschriebenes Gesetz im Fußball. Nachdem sich Torwart Manuel Neuer im Dezember 2022 bei einem Skiunfall schwer verletzt hatte, machte der damalige Bundestrainer Hansi Flick Gündogan zum Anführer. Julian Nagelsmann übernahm die Personalie und muss nun erkennen, dass sich die zuletzt verunsicherte Mannschaft an Toni Kroos aufrichtet. Er ist es, der seine Nebenleute soviel besser macht, der ihnen Halt gibt und Orientierung. Gündogan, der seit der USA-Reise im Herbst 2023 endlich seinen Platz in der Mannschaft gefunden zu haben schien, nämlich in der Offensive, droht schon wieder heimatlos zu werden.
Am nächsten Dienstag, im Testspiel gegen die Niederlande (20:45 Uhr, RTL), jedoch wird Gündogan noch einmal gemeinsam mit Wirtz und Musiala auflaufen. Und wer weiß: Vielleicht wird Toni Kroos mit seinen Pässen auch Ilkay Gündogan eine passende Position auf dem Rasen zuweisen. Zuzutrauen ist Kroos, dem großen Raumdeuter, derzeit alles.