Israel-Palästina-Konflikt: Auf welcher Seite stehst du? Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit
Abed ist Palästinenser, Margalit Israelin. Beide glauben an den Frieden. In der Debatte hierzulande scheint uns das nicht zu gelingen. Journalistin Sophia Maier erklärt, warum wir mehr Empathie wagen sollten.
"Antisemitin."
"Widerliche Terrorunterstützerin."
"Judenhasserin."
Und: "Die Sophia hat das Trauma ihrer Großeltern geerbt, den Krieg verloren zu haben, bevor sie alle Juden systematisch und industriell ermordet haben."
Das sind nur einige Beispiele von Kommentaren, die ich in den vergangenen Tagen bekommen habe. Der Auslöser war ein Posting in den sozialen Netzwerken. Ich schrieb, dass Kritik an Israel nicht gleichbedeutend mit Antisemitismus sei, und beklagte, wie still viele Menschen trotz der Ereignisse in Gaza seien. Mein Posting endete mit dem Satz: "Das, was gerade in Gaza passiert, ist nicht mit unserem Humanismus, unserem Verständnis von Menschenwürde und unserer Moral vereinbar."
Es folgte ein massiver Shitstorm mit hunderten Kommentaren und Nachrichten. Nicht die erste Hasswelle, die ich erleben musste. Sobald ich mich zum Israel-Gaza-Krieg äußere, kocht Wut hoch. Auf beiden Seiten. Aber ich bin hier nicht das Opfer. Ich erzähle diese Geschichte, weil sie für mich ein Sinnbild ist für unser Schwarz-Weiß-Denken ist, für den verengten Diskurs in Deutschland, für die wachsende Unfähigkeit, anderen Menschen zuzuhören.
Ein Krieg ist kein Sportereignis
Die Debatte in unserem Land zum Israel-Gaza-Krieg fühlt sich bisweilen wie ein Fußballmatch an. Entscheide dich: Bist du für oder gegen Israel? Bist du für oder gegen die Palästinenser? Wo stehst du? Als wäre dieser Krieg ein Sportereignis.
Obwohl wir in einer Demokratie leben, in einem der besten Länder dieser Welt, gibt es hierzulande aktuell wenig Raum zum Nachdenken, Fühlen, Reflektieren. Es gibt wenig Raum für die Grautöne, für Abwägungen, Uneindeutigkeiten, Ambivalenz. Und es gibt noch weniger Raum, beide Seiten gleichermaßen zu beleuchten. Den unmenschlichen, bestialischen Terrorangriff der Hamas, die Ermordeten und die Geiseln auf israelischer Seite. Das unverhältnismäßige Vorgehen Israels und das unendliche Leid der Zivilbevölkerung Gazas.
Es gibt Wahrheiten, die nicht diskutabel sind. Es ist nicht diskutabel, dass es nichts auf der Welt gibt, was diesen widerwärtigen Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 auf irgendeine Art und Weise rechtfertigen könnte. Wer das tut, hat den demokratischen Diskurs verlassen. Gleichermaßen ist es nicht diskutabel, dass humanitäres Völkerrecht verpflichtend ist und zu wenig getan wird, das Leben der Zivilisten in Gaza zu schützen. Wer das anzweifelt, hat den demokratischen Diskurs ebenso verlassen. Aber es gibt auch Wahrheiten, die nicht mit dem bloßen Augen erkennbar sind. Es ist unsere Pflicht, genau hinzusehen, nachzufragen und zuzuhören.
Fünf Zahlen zum Gaza-Krieg 08:18
Ich habe als Journalistin die Aufgabe, aufzuklären und fernab von Gut-und-Böse-Schubladen Realitäten abzubilden, alle Seiten zu hören und zu sprechen. Diese journalistische Ethik, der wir in diesem Beruf verpflichtet sind, sollte immer Grundlage unserer Arbeit sein – unabhängig von moralischen oder gesellschaftlichen Wertvorstellungen und unabhängig von der eigenen Meinung und Haltung.
Der einzige gemeinsame Nenner ist das unmenschliche Leid
Für meine aktuelle Reportage habe genau das versucht: ein Bild zu zeichnen, das vollständiger ist als das hierzulande bekannte. Ich habe Menschen getroffen, deren Lebensumstände unterschiedlicher nicht sein könnten. Menschen, die auf diesen Krieg nicht unterschiedlicher blicken könnten. Menschen, deren vielleicht einziger gemeinsamer Nenner in dem unmenschliche Leid besteht, das ihnen widerfahren ist; Grausamkeiten, ständige Angst um ihr Leben, Trauer um ihre Familien.
So durfte ich beispielsweise Ricarda Louk begleiten. Gemeinsam waren wir auf dem Festival-Gelände nahe Gaza, von welchem ihre Tochter Shani von Hamas-Terroristen verschleppt und brutal getötet wurde. Hier hat sie einen Baum für Shani gepflanzt, ein Denkmal, das für ewig an ihre lebensfrohe Tochter erinnern soll.
Anschließend habe ich zwei palästinensische Schwestern im von Israel besetzten Westjordanland getroffen: Fatima und Sarah. Ihr erst 15-jähriger Bruder Taha wurde von israelischen Soldaten erschossen. Tahas großer Traum war es, zur Universität zu gehen und Ingenieur zu werden.
Auf meiner Reise war ich in palästinensischen Dörfern im Westjordanland, die von massiver Siedlergewalt betroffen sind, und anschließend in israelischen Kibbuzen an der Grenze zu Gaza, die von der Hamas brutal überfallen wurden. Ich habe radikale Siedler an die Grenze begleitet, an der sie dringende Hilfslieferungen für die Zivilbevölkerung in Gaza blockierten. Ein 16-jähriges Mädchen sagte mir vor laufender Kamera: "Sie können von mir aus verhungern. Sie verdienen keine Gnade." Und ich habe Kämpfer der Terrororganisation Islamischer Dschihad interviewt, die den bestialischen Terrorangriff vom 7. Oktober bejubelten und mit einem weiteren, noch größeren 7. Oktober drohten.
Es waren vielschichtige Begegnungen. In meinen Gesprächen erlebte ich erstaunlicherweise neben großer Unversöhnlichkeit, Wut und Schmerz auch Hoffnung: auf eine bessere Zukunft, auf Verständigung und Frieden. Es gibt zwei Menschen, die mich besonders berührt und mir besonders gezeigt haben, was echte Menschlichkeit bedeutet, fernab vom Freund-Feind-Denken.
Die eine Person heißt Abed Wadi. Seine Familie stammt aus dem Westjordanland. Abeds Bruder Ibrahim und sein Neffe Ahmad wurden fünf Tage nach dem 7. Oktober von radikalen Siedlern im Westjordanland brutal aus einem fahrenden Auto heraus erschossen.
Ich fragte ihn: "Haben Sie Empathie für die Menschen, die am 7. Oktober ermordet wurden?"
Er antwortete: "Empathie? Ja, natürlich. Ich habe große Empathie für diese ermordeten Menschen. Ich bin gegen jegliches Morden. Morden ist in unserer Religion verboten. Wir sind Menschen, die ihre Religion und den Frieden lieben."
"Glauben Sie noch, dass Frieden möglich ist?"
"Sicher. Ich wünsche mir für die Zukunft Frieden für die Kinder, für jede Gruppe in diesem Land. Für Palästinenser und Israelis."
Frieden macht man mit Feinden
Die andere Person ist Margalit Moses. Sie lebte seit ihrer Geburt im Kibbuz Nir Oz, wo sie von der Hamas am 7. Oktober entführt wurde. 48 Tage harrte sie als Geisel in den Tunneln der Terroristen aus, bis sie freikam. Niemand vermag sich vorzustellen, welche Todesängste sie in dieser Zeit durchlitten hat.
Ich frage die 77-Jährige: "Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn sie an die Menschen in Gaza denken?"
Sie antwortete: "Es tut mir sehr leid, weil ich glaube, die Leute dort sind nicht alle Hamas. Ich bin traurig, dass es ihnen so geht."
"Nach allem, was Sie erlebt haben: Haben Sie jetzt noch Hoffnung auf echten Frieden?"
"Ja. Frieden macht man mit Feinden. So habe ich es gelernt."
Margalit und Abed. Beide haben verdammt gute Gründe, der anderen Seite nicht mehr zuzuhören, keine Empathie zu fühlen, den anderen zu hassen. Aber sie tun das Gegenteil. Sie spüren die andere Seite, sie hören einander zu, sie glauben trotz ihrer Schicksalsschläge an ein friedliches Zusammenleben.
Wenn Abed und Margalit, die beide Unvorstellbares erlebt haben, das schaffen, schaffen wir das nicht auch? Ist es für unsere privilegierte Gesellschaft nicht möglich, intensiver ins Gespräch zu gehen und den Diskurs in all seinen Facetten zu führen?
STERN PAID 16_24 Israel Deutschland 09.26
In einer Demokratie, die jede Möglichkeit bieten sollte, sich umfassend zu informieren, auszutauschen und die eigene Meinung öffentlich zu äußern, ist eine Diskursverengung und Unerbittlichkeit in den Diskussionen, wie es sie in Deutschland aktuell beim Thema Gaza-Krieg gibt, fehl am Platz.
Wir brauchen dringend eine offene Debatte und mehr Toleranz: den anderen nicht überzeugen wollen, andere Positionen zulassen, zuhören, besonnen darüber nachdenken und reflektieren. Sich auch anderen Anschauungen als den eigenen öffnen.
Als Journalistin ist genau das meine Pflicht: Ich schaue unvoreingenommen hin, spreche mit Menschen und trage ihre Geschichten weiter. Und in dieser Funktion möchte ich für mehr Empathie von beiden Seiten und für beide Seiten plädieren. Als Menschen eint uns die Fähigkeit zum Mitgefühl: Wir sollten es für jeden aufbringen – für Israelis und Palästinenser.
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